Die Tyrannei der Emotionen hat uns zu Gefühlssüchtigen werden lassen. „Ich fühle, also bin ich“ scheint das Motto der heutigen Zeit zu sein. In diesem Teil geht es um Emotionen als Droge.
Für ein Gefühl lassen wir alles hinter uns, was uns je teuer war. Doch Gefühle sind wankelmütig, unsicheren Sandburgen gleich. In drei Teilen veröffentlichen wir einen Artikelauszug des Magazins „Zeiten Schrift“ Ausgabe 37, Autorin Ursula Seiler. Dies ist Teil 2 zum Thema „Droge mit Nebenwirkungen“.
Identifikation mit unseren Gefühlen
In den letzten Jahrzehnten befanden wir uns am Punkt, wo sich die reine Emotionalität schon in feinere, liebevollere, positivere Gefühle hätte wandeln sollen. Damit sind Gefühle der Brüderlichkeit und des Mitgefühls für alles Leben gemeint. Die Menschen begannen, sich in nie gekanntem Ausmaß für Gefühle zu interessieren. Und dies ist nicht besonders erstaunlich, denn mit dieser Stimulierung der Gefühlsnatur in uns begannen wir immer mehr, uns mit unseren Gefühlen zu identifizieren.
Glück ist relativ
Ist unser vorherrschendes Gefühl glücklich und freudig, empfinden wir das Leben als schön. Wir empfinden uns selbst als glückliche, vom Leben gesegnete Wesen. Das geschieht auch dann, wenn wir in den Augen anderer vielleicht Mangel erleben oder uns in einer wenig beneidenswerten Situation befinden. Ist unser vorherrschendes Gefühl Trauer, Frustration, Enttäuschung oder Groll, dann ist unser ganzes Leben verdüstert. Wir bezeichnen uns nicht als glückliche Individuen, selbst wenn wir eigentlich alles haben, was einen Menschen glücklich machen sollte. Ein Gefangener, der sich verliebt hat und wieder geliebt wird, mag daher sein Leben als schöner empfinden, als ein Millionär mit schöner Frau und artigen Kindern, der in sich nichts als Leere und Überdruss fühlt.
Man IST nicht sein Gefühl
Im Augenblick scheint es also so, daß unsere Gefühlsnatur sehr stark geworden ist. Jedoch sind wir noch ihr Sklave. Wir haben noch nicht die Seelenstärke entwickelt, der Herr unserer Gefühle zu sein. Herr der Gefühle zu sein fängt damit an, sich nur schon mal bewusst zu sein, dass man nicht seine Gefühle IST.
Wie es aussieht, gibt es auch Kräfte, die um jeden Preis verhindern möchten, daß der Mensch jemals zum Herrn seiner Gefühle wird – und die im Gegenteil ihn immer stärker an seine eigene, wildgewordene Gefühlsnatur ketten möchten.
Gefüttert mit Erlebniswelten
Zum einen füttern sie den Appetit unserer Gefühlsnatur über Film und Fernsehen mit immer stärkeren Dosen von Spannung, Horror, Entsetzen, aber auch schmachtenden, romantischen Gefühlen und unerfüllbaren Sehnsüchten. Der Mensch früherer Jahrhunderte hatte eine Erlebniswelt, und die war real. Der Mensch von heute hat unzählige Erlebniswelten, die er per Knopfdruck in seine Gefühlswelt rufen kann, und die deren Begierden immer unersättlicher werden lassen.
Emotion als Droge
Viele Menschen sind fernsehsüchtig, ohne sich dies einzugestehen. Ein Abend, an dem kein guter Krimi oder sonst ein fesselnder Film ausgestrahlt wird, ist ein verlorener Abend. Ihre Gefühlsnatur geht unbefriedigt zu Bett. Sie ist nicht ausreichend gefüttert worden. Und darin liegt eine weitere Gefahr: Dass wir darauf abgerichtet werden, mit Gefühlen gefüllt und gefüttert zu werden, ohne dass wir etwas dafür tun müssen (außer faul auf dem Sofa zu liegen).
Aufs Konsumieren getrimmt
Kein Wunder, bringen wir solcherart passiv gemacht und aufs Konsumieren getrimmt dann kaum mehr die Kraft auf, im Bett selbst schöne Gefühle für den Partner zu erzeugen. Denn das bedeutet ja Arbeit. Die scheuen wir um so mehr, als wir erleben, dass wir ohne einen Finger zu rühren, gefühlsmäßig befriedigt werden können. (Umfragen zufolge herrscht im Bett um so mehr Ebbe, als die Gefühlsflut im Fernsehen steigt).
Dieser Beitrag ist erschienen in ZeitenSchrift Nr. 37 auf Seite 24 und online hier verfügbar.