Durch Viren zum Säugetier
Unser Gastautor, Buchautor und Gesundheitscoach, Uwe Karstädt, zeigt in einer zweiteiligen Serie, wie ein einziger Virus entscheidenden Einfluss genommen hat. Nämlich in unserer Entwicklung von einer eierlegenden Gattung zum hochentwickelten Säugetier. Wie wir sehen werden, ist es ein phantastisches Update. Ohne es wären wir nicht das, was wir heute sind.
Sprache der Evolution
Spielten Viren bisher ein stiefmütterliches Dasein im Bewusstsein der Menschen – außer bei den medizinischen Berufen – so sind Viren heute durch die Berichterstattung in allen Medien omnipräsent. Wer meine Kolumnen oder meine Ausführungen in meinem letzten Buch gelesen hat, weiß, dass ich die Viren als die „Sprache der Evolution“ bezeichnet habe. Bisweilen bezeichne ich die neuen Variationen der Viren als die „Updates“, die uns Menschen befähigen mit den neuen Stressfaktoren einer veränderten Umwelt besser zurecht zu kommen. Im Folgenden berichte ich von einem Beispiel, wie ein einziger Virus einen entscheidenden Einfluss genommen hat in unserer Entwicklung von einer eierlegenden Gattung zu einem hochentwickelten Säugetier. Wie wir gleich sehen werden ist es ein phantastisches Update ohne das wir nicht wären, wer wir heute sind.
Wie die Evolution funktioniert
Haben Sie sich schon einmal darüber Gedanken gemacht wie die Evolution funktioniert? Manche können sich gerade noch vorstellen wie man eine neue Apfelsorte entwirft oder eine neue Mandarinensorte ohne Kerne. Aber wie entstanden beispielsweise aus ein paar Amöben die ersten Vielzeller, oder aus einem Fisch ein landgängiges Tier auf vier Beinen? Und wie war der Übergang von einer Gattung, die Eier legt zu einem so komplexen Wesen wie einem Säugetier?
Der Unterschied zwischen diesen beiden Varianten ist nämlich gewaltig. Das Heranwachsen der Nachkommen in einem Ei ist ein separater Vorgang außerhalb der Mutter. Während bei einem Säugetier das neue Leben sicher und geschützt im Mutterleib wächst. Nicht nur das. Die Mutter kann sich dann nämlich uneingeschränkt bewegen, während sie früher während dem Brüten auf das Nest beschränkt war – außer der Vater hilft aus.
Zellhaufen in friedlicher Koexistenz
Die neue Variante bedeutet, dass zwei Menschen in einem Körper mit unterschiedlichen Zellen und Geweben existieren und wachsen. Sie existieren – beispielsweise bei uns Menschen – über ca. 9 Monate in friedlicher Koexistenz. Dabei wäre es eigentlich nicht verwunderlich, wenn das Immunsystem der Mutter den „fremden Zellhaufen“ sofort angreifen würde. Auch wenn man es gefühlsmäßig kaum zu glauben vermag: wenn sich Mutter und Kind im Mutterleib jemals „berühren“ würden oder wenn Blut von einem Körper in den anderen dringen sickern würde, würde das Immunsystem der Mutter das Baby sofort töten.
Jeder kennt wohl die Bilder von einem Baby im Mutterleib, indem es in einer dünnen, mit Fruchtwasser gefüllten Fruchtblase sitzt. Sie wurde durch das Baby gebildet. Ein Teil davon verdickt sich und heftet sich im Grunde an die Gebärmutter. Dieser dickere Teil ist die Plazenta. Der Rest ist diese ei-artige Fruchtblase.
Zwei Menschen in einem Körper
Der „Mutterkuchen“ ist ein temporäres Organ. Es ist das einzige temporäre Organ im mütterlichen Körper und bedeutet für das ungeborene Leben sowohl Nahrungsquelle wie auch Abfallentsorgungssystem. Die Plazenta agiert außerdem als die Lunge des Babys. Das erstaunlichste Phänomen der Plazenta ist aber, dass sie zwei Menschen ermöglicht in ein und demselben Körper zu leben. Wir denken oft, dass der Fötus nur ein weiterer Teil der Mutter ist, sozusagen wie ein heranwachsendes Organ. Das ist eine Vorstellung, die weit entfernt von der Realität ist. Denn die eine Hälfte des Fötus ist genetisch mütterlicherseits, die andere väterlicherseits geprägt. Besser gesagt der Fötus ist eine Mixtur aus beiden, aber definitiv nicht identisch mit nur den mütterlichen Genen.
Wir wissen von den Organverpflanzungen der letzten Jahrzehnte, dass der problematischste Teil der Transplantation die Abstoßreaktionen gegen das neue Organ ist. Zwei Zellverbände von verschiedenen Menschen in einem Körper? Das ist in der Natur nicht vorgesehen. 9 Monate also ohne Abstoßreaktion – wie geht das?
Höchst intelligenter Türsteher
Die Plazenta fungiert sozusagen als Schnittstelle zwischen zwei lebenden Organismen. Sie muss Sauerstoff und Nährstoffe zum Baby gelangen lassen. Auch Medikamente und schützende Antikörper können von der Mutter zum Embryo wandern. Die Plazenta muss aber auch Kohlendioxid und Abfallstoffe herauslassen und bewährt sich hier als höchst intelligenter Türsteher.
Der Wissenschaftler Ed Chuong forscht am Biofrontiers Institute in Colorado auf dem Gebiet der molekularen zellulären Entwicklungsbiologie. Chuong vermutet, dass die Plazenta vor etwa 150 bis 200 Millionen Jahren entstanden ist. Davor musste sich ein Lebewesen, wenn es sich fortpflanzen wollte, Eier legen. In der Wissenschaft wird die Plazenta als abgrenzendes Merkmal von lebendgebärenden Säugetieren zu anderen eierlegenden Wirbeltieren ansehen. Dazu gehören neben uns Menschen die Primaten, Nagetieren, Hunden, Katzen, Pferde, Kühe und viele andere Säugetiere.
Limitierende Eierschale
Vor dem evolutionären Schritt der Entwicklung einer Plazenta musste ein Baby also in einer Eierschale aufwachsen. Es ist sozusagen eingemauert und abgeschirmt von der Mutter bzw. den möglichen Angriffen des mütterlichen Organismus. Alle Nährstoffe, die das Baby brauchte, mussten von Anfang an im Ei enthalten sein. Es gibt dabei kein nachträgliches Füttern und Versorgen. Das Dotter ist das einzige mitgegebene Pflegepaket und die Wegzehrung, die dem Embryo bis zur Geburt reichen muss. Die einzige weitere Zutat ist die Nestwärme bis zum Schlüpfen.
Evolutionärer Schritt
Wenn man es planen würde, wäre die Aufgabe der Evolution folgende: Es ginge im Wesentlichen darum, diese limitierende Eierschale zu verlieren. Sie wurde statt dessen durch eine Art Gewebe oder Organ zu ersetzen, das sich während der Entwicklung des Embryos an der Gebärmutter der Mutter festsetzt. Dieses Gewebe – die spätere Plazenta – müsste gewährleisten, dass die mütterlichen und fötalen Blutströme getrennt bleiben. Die Trennung dieser Blutströme wird durch eine Zellschicht hergestellt, die man in der Medizin Synzytiotrophoblast nennt.
Zusammen und gleichzeitig getrennt
Der Synzytiotrophoblast ist die äußerste Schicht der Plazenta. Es ist buchstäblich eine Schicht von Zellen, die miteinander verschmolzen sind und damit eine trennende Wand bilden. Es ist der Teil, der gegen die Gebärmutter gedrückt wird. Diese Wand aus verschmolzenen Zellen sorgt dafür, dass Mutter und Baby sich nicht gegenseitig umbringen. Sie leben – wie wir wissen – harmonisch zusammen und gleichzeitig getrennt.
Lesen Sie morgen den zweiten Teil, in dem es darum geht, dass ein uralter Retrovirus dafür verantwortlich ist.
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Ich erlebe es tagtäglich an meinen Patienten: Gesundheit heißt im Einklang sein mit ihrem gesamten Organismus und der Welt um sie herum. Sie sind für ein gesundes Leben bestens ausgerüstet. Denn:
Gesundheit ist das natürlichste auf dieser Welt.