Der Selbstheilungsnerv: Neurologie des sozialen Engagement-Systems

Jedes Mal, wenn wir nach der Aktivierung des sympathischen Grenzstranges oder des hinteren Vagus-Astes wieder einen Zustand der sozialen Zugewandtheit herstellen können, steigt auch die Belastbarkeit unseres autonomen Nervensystems.

Zustand der sozialen Zugewandtheit

Wenn ein Mensch sich sicher fühlt, also keiner Bedrohung oder Gefahr ausgesetzt ist, körperlich gesund ist und seine Körperfunktionen in Ordnung sind, kann er sich nach Auffassung der Polyvagal Theorie eines physiologischen Zustandes erfreuen, der Verhaltensweisen von spontaner sozialer Zugewandtheit begünstigt.

Dieses soziale Engagement ist aus neurologischer Sicht ein auf der Aktivität von fünf Hirnnerven beruhender Zustand: dem vorderen Ast des Vagus (X. Hirnnerv und der Bahnen der Hirnnerven V, VII, IX und XI). Arbeiten diese fünf Nerven ordnungsgemäß zusammen, begünstigen sie einen Zustand, der zu Sozialverhalten, Kommunikation und angemessenen selbstberuhigenden Verhaltensweisen befähigt.

Liebe und Freundschaft

Sind wir sozial zugewandt, können wir Gefühle von Liebe und Freundschaft erleben. Wir

  • gehen Bindungen miteinander ein,
  • entwickeln Freundschaften
  • kommen in den Genuss enger sexueller Beziehungen,
  • kommunizieren,
  • sprechen miteinander,
  • kümmern uns umeinander,
  • arbeiten zusammen,
  • erzählen Geschichten,
  • singen gemeinsam,
  • tanzen und feiern zusammen
  • genießen es mit Freunden und Angehörigen an einem Tisch zu sitzen, um zu essen und zu trinken.

Diese gehören zu den wichtigsten Erfahrungen, die uns als Mensch auszeichnen. Sozialverhalten beschränkt sich nicht nur auf unsere Beziehungen zu anderen Menschen sondern auch zu Tieren.

Positiver sozialer Austausch

Der positive Kontakt mit anderen wird nicht nur durch den neuralen Kreislauf des sozialen Engagement-Systems erleichtert, positive Erfahrungen mit anderen helfen uns auch bei der Regulierung unseres autonomen Nervensystems. In Kontakt mit sozial zugewandten Menschen fühlen wir uns besser. Haben wir dagegen nicht genügend positiven sozialen Austausch mit anderen, können wir leicht unter Stress geraten, deprimiert oder einzelgängerisch werden oder sogar ein gemeinschaftswidriges Verhalten entwickeln.

Folgen für die Gesundheit

Gemäß der Polyvagal-Theorie hat das autonome Nervensystem zusätzlich zu den Funktionen des vorderen (ventralen) Vagus-Astes zwei weitere, nämlich die Aktivität des hinteren (dorsalen) Astes des Vagus und die Sympathikus-Aktivität des Grenzstranges. Die Unterschiede zwischen den Funktionen des vorderen und des hinteren Vagus-Astes haben tiefgreifende Folgen für die körperliche und seelische Gesundheit sowie für die Genesung.

Die Wiederherstellung von Kontakt und Kommunikation

Mit Hilfe von Übungen und Techniken wird das autonome Nervensystem in seiner Funktion wieder flexibler. Die Übungen können dazu beitragen, dass chronischer Stress gar nicht erst entsteht, der eine Folge der Überstimulierung des spinalen Grenzstranges ist, ebenso wenig wie das depressive Verhalten und das Abschalten, die der Aktivität im Kreislauf des hinteren Vagus-Astes geschuldet sind. Die Übungen sind nichtinvasiv und erfordern weder die Verordnung von Arzneimitteln noch die Betreuung durch einen Arzt. Durch die Übungen verbessert sich die Funktion des vorderen Vagus-Astes und damit wird die Regulation der an Atmung, Verdauung, Ausscheidung und Sexualfunktion beteiligten inneren Organe unterstützt.

Diese Übungen führen bei den meisten Menschen zu einer verbesserten körperlichen und seelisch-sozialen Gesundheit.

Reaktionen des autonomen Nervensystems

Der Körper, das Nervensystem und die Gefühle müssen sich ständig anpassen, damit wir auf sich verändernde Gegebenheiten reagieren können, wie auf eine Bedrohung, bei der wir körperlich oder psychisch in Gefahr sind. Dabei ist es angebracht, dass unser autonomes Nervensystem vorübergehend physiologisch mit einer Sympathikus-Aktivität des Grenzstranges (z. B. einem Stresszustand) oder mit einer Aktivität im hinteren Vagus-Astes (z. B. einer Depression) reagiert. Diese Veränderungen helfen bei unserem Überleben. Ist die akute Gefahr oder Bedrohung vorüber, ist es am besten, wenn wir direkt wieder in einen Zustand der sozialen Zugewandtheit wechseln können.

Es kann also notwendig sein, diese Übungen bzw. Techniken gelegentlich oder auch regelmäßig zu wiederholen.

Positive Auswirkungen der Aktivierung

Die positiven Auswirkungen sind jedoch kumulativ. 

Unser langfristiges Ziel ist es, das autonome Nervensystem dabei zu unterstützen, dass es von selbst ganz natürlich aus einem Stresszustand (Aktivierung des sympathischen Grenzstranges) oder einer Depression (Aktivität im Kreislauf des hinteren Vagus-Astes) zu einem Zustand der sozialen Zugewandtheit zurückkehrt, sobald sich die äußeren Umstände zum Besseren verändern und wir uns wieder körperlich und emotional sicher fühlen.

Wie die Gehirnnerven und Gesundheitsprobleme zusammenhängen, zeigen wir Ihnen in unserem nächsten Beitrag zum Selbstheilungsnerv.

Lesen Sie dazu auch das Buch von Stanley Rosenberg „Der Selbstheilungsnerv“.

 

Rainer Kitza Editor
Autor

Als Autor dieses Blogs teile ich gerne meine Erfahrung und mein Wissen über Gesundheit und Heilung, das ich durch Studium und Erfahrung in vielen Jahren gesammelt habe.

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